J. Vondráček: Herrschaft, Verwaltung und Alltag im Protektorat Böhmen und Mähren

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Titel
Herrschaft, Verwaltung und Alltag im Protektorat Böhmen und Mähren. Alltägliches Wirtschaften im politischen Bezirk Kladno 1939–1945


Autor(en)
Vondráček, Jan
Reihe
Studien zur Ostmitteleuropaforschung (51)
Erschienen
Anzahl Seiten
228 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Mohn, Bad Homburg

Bereits in den ersten Monaten nach dem Einmarsch deutscher Truppen und der Errichtung des Protektorates Böhmen und Mähren im März 1939 verschlechterte sich die Versorgungslage deutlich: Nicht zuletzt in Erinnerung an die katastrophalen Engpässe während des Ersten Weltkriegs reagierte die Bevölkerung mit Hamsterkäufen. Aber auch die im Protektorat stationierten deutschen Soldaten und Verwaltungsbeamten deckten sich mit all jenen Waren ein, die in Deutschland mit Blick auf die bereits vollzogene Umstellung zur Kriegswirtschaft kaum noch zu bekommen waren. Es habe sich um einen „nahezu rauschartigen Sturm der Besatzer auf die Geschäfte” gehandelt, fasst Jan Vondráček die Entwicklung zusammen (S. 1). Die Besatzungsmacht reagierte auf Versorgungsengpässe und daraus resultierende Preiserhöhungen, indem sie die Umstellung zur Kriegswirtschaft auch im Protektorat vorantrieb. Zu den Folgen gehörten festgesetzte Preise, Rationierungen und eine Ablieferungspflicht für die Nahrungsmittelproduzenten. Die Durchsetzung dieser Veränderungen stellte die Besatzungsmacht allerdings vor größere Herausforderungen.

Wie sich das institutionelle Gefüge in diesem Bereich im Laufe der Besatzungszeit entwickelte, wie die Bevölkerung auf getroffene Maßnahmen reagierte und inwiefern Verstöße sanktioniert wurden, stand bislang nicht im Fokus der Forschung. Abgesehen von diversen Arbeiten zur Besatzungspolitik im Protektorat, kann der Autor auf die Erkenntnisse mehrerer neuer Studien zur Ernährungspolitik aufbauen.1 Auch zur Wirtschaftslenkung im Rahmen der NS-Kriegswirtschaft liegen zentrale Forschungen vor, die Vondráček allerdings nur selektiv berücksichtigt.2 Auch wenn er zu Recht einen „Mangel an Studien auf der Ebene des Verwaltungsvollzugs“ und eine allzu starke Konzentration „vor allem auf die Akteure der Makroebene“ (S. 10) beklagt, wäre eine umfassendere Einbettung in die aktuelle Forschung hier wünschenswert gewesen. Wie die neuen Regulierungen und das System der Rationierung konkret in das Wirtschaftsleben implementiert wurden, möchte er durch einen Blick auf Akteure und Entwicklung der „ersten Instanz“, im Fall des Protektorates also auf die zuständigen Stellen in den Bezirken, zeigen.

Diesem Themenfeld widmet sich Jan Vondráček in der vorliegenden Publikation, die auf seiner 2017 an der Technischen Universität Chemnitz abgeschlossenen Dissertation beruht. Um die „Konfliktfelder des alltäglichen Wirtschaftens“ und „diejenigen Berührungspunkte, wo Bevölkerung und Verwaltung aufeinandertreffen [sic]“ (S. 5) in ihrer Komplexität sinnvoll untersuchen zu können, konzentriert er sich auf die Entwicklung im politischen Bezirk Kladno, einer insgesamt eher ländlich geprägten Region, in der aber mehrere kriegswichtige Industriebetriebe angesiedelt waren.

Im Zentrum des Bandes steht mit den Registrierbüchern des Strafreferates der Bezirksbehörde eine Quelle, die mit knapp 4.000 Einträgen von Oktober 1941 bis Mai 1945 nicht nur vollständig erhalten ist, sondern auch besondere Einblicke in die Zuständigkeiten, die Arbeit der Verwaltung und nicht zuletzt in die Lebenswirklichkeit der Bevölkerung liefern kann. Die Einträge beinhalten sämtliche Anzeigen zu sogenannten Ernährungs-, Versorgungs- und Preisvergehen (so die Titel der Registrierbücher) während dieser Zeit. Es stellt einen großen Mehrwert dar, dass der Autor sich bei seiner Analyse nicht auf eine grobe Zusammenfassung ausgewählter Beispiele beschränkt, sondern den gesamten Datensatz mit Hilfe einer eigens hierfür entwickelten Software statistisch auswertet. Hierdurch ergibt sich ein genaues Bild davon, inwieweit die Kontrollmechanismen der Besatzungsmacht funktionierten, wie häufig Verstöße wie Schleichhandel, falsche Buchführung, Überteuerung sowie Delikte mit Lebensmittelkarten angezeigt und auf welche Weise sie geahndet wurden. Um diese Fragen zu untersuchen, stehen mit den Registrierbüchern aber nicht nur statistische Daten zur Verfügung: Zu jedem der in dieser Quelle erfassten Vorgänge gibt ein Protokoll genauere Auskunft, sodass jeweils Zusammenhang und Ablauf aus der Sicht der Behörde rekonstruiert werden können. In diesem Weg der statistischen Auswertung sieht Vondráček einen „Schlüssel zur Rekonstruktion der alltäglichen Verwaltungs- und Vollzugspraxis sowie der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Protektorat“ (S. 14).

Der erste Teil des Bandes bietet einen Überblick darüber, welche Stellen im Protektorat sowie auf lokaler Ebene im Bezirk Kladno welche Kompetenzen innehatten. Es folgen drei Hauptkapitel mit der eigentlichen Untersuchung. Deren Aufteilung in Produktion, Distribution und Konsum folgt, so der Autor, „dem Weg, den die Lebensmittel nahmen und auf dem sie staatliche Kontrollmechanismen zu passieren (oder zu umgehen) hatten“ (S. 18). Hierbei gelingt es ihm, mehrere wichtige Aspekte herauszuarbeiten: Zunächst einmal dauerte es bis Ende 1941, bis in den Bezirksbehörden zusätzliche und deutlich vergrößerte Abteilungen für Ernährung, Versorgung, Preisgestaltung, Preiskontrolle und eben auch das Strafreferat gebildet wurden und so auf Verwaltungsebene erst eine systematischere Kontrolle und Lenkung möglich wurde. Es seien im Fall Kladno ausschließlich tschechische Beamte gewesen, die in die neuen Abteilungen eingeteilt wurden und dort vergleichsweise weitgehende Befugnisse hatten. Die Implementierung und Umsetzung der Vorgaben sei fast ohne direkte Eingriffe deutscher Stellen erfolgt.

Im Fall des Strafreferates bedeutete dies konkret, dass tschechische Beamte ohne Rücksprache mit deutschen Stellen über eine Sanktionierung von Verstößen entschieden. Sie verhängten dabei Geld- sowie seltener Gefängnisstrafen, die je nach Vergehen bis zu max. drei Monate betrugen. Schwere Fälle wurden an die Landesbehörde in Prag als übergeordnete Instanz, niemals aber an deutsche Stellen oder gar Sondergerichte abgetreten (S. 189f.). Bei kleineren Vergehen, die in den Augen der Behörden keine Gefahr für das Funktionieren des Systems darstellten, fielen die verhängten Strafen deutlich geringer aus und konnten sogar noch reduziert werden, wenn z.B. ein Gnadengesuch gestellt und der begangene Verstoß darin nachvollziehbar begründet wurde. Auch wenn die Kriegswirtschaft deutliche Einschnitte mit sich brachte, sei bei den Maßnahmen doch der Anschein eines nachvollziehbaren rechtlichen Rahmens gewahrt worden: „Auch den Ertappten blieb ein Raum erhalten, in dem sie gegen verhängte Sanktionen vorgehen konnten.“ (S. 192) Verbunden mit der Bearbeitung fast ausschließlich durch tschechische Beamte habe dies im Alltag für einen „gewohnten Rahmen“ zwischen Bevölkerung und Behörden gesorgt, der wesentlich zur Akzeptanz und zum Funktionieren des Kontrollsystems und so der gesamten Versorgung beigetragen habe.

Wie lückenlos die Kontrollen ausfallen konnten, war indes unterschiedlich: Während es in einigen Bereichen wie beim Mahlen von Getreide (in diesem Fall in Folge einer Kombination von „Mahlschein“ und dem Verbot von Hausmühlen) kaum möglich war, Verbote zu umgehen, seien andere Verstöße wie etwa der illegale direkte Tausch von Waren allenfalls durch Stichproben kontrollierbar gewesen. Zahlreiche Anzeigen seien zudem auf Denunziationen zurückzuführen. Bei der Kontrolle sei der Bezirksbehörde eine Schlüsselposition zugekommen.

Vondráček legt eine Studie vor, die nicht nur gut lesbar geschrieben, sondern auch sinnvoll strukturiert ist und inhaltlich überzeugt. Die Registrierbücher des Strafreferates der Bezirksbehörde entpuppen sich als aufschlussreiche Quellenbasis: Durch die statistische Auswertung gelingt ein fundierter Einblick in die unterschiedlichen Felder, die die Arbeit des Referates betrafen. Sinnvoll ergänzt wird dies durch einzelne Fallbeispiele und deren Einordnung. Mit vielen von ihnen rechnet man als Leser, denn Schleichhandel, Lebensmittelkartenmissbrauch oder Schwarzschlachtungen stellen auch in Darstellungen von Zeitzeugen ein wiederkehrendes Thema dar. Darüber hinaus liefert der Band aber wichtige Erkenntnisse über die neu eingerichteten Behörden und Abteilungen (insbesondere über die Bezirksbehörde als zentralen Akteur), über die verschiedenen Kontrollmechanismen und Unterschiede bei Produktion, Distribution und Konsum sowie über die alltägliche Begegnung zwischen Kontrolleuren und Bevölkerung. Heraus kommt ein komplexes Bild jener „lebensnahen Geschichte des Wirtschaftens“ (S. 21), wie sie Vondráček in der Einleitung als Ziel vorgestellt hatte. Die Konzentration auf den politischen Bezirk Kladno und den dortigen Aktenbestand war hierfür sicherlich sinnvoll.

Interessant wäre noch ein stärkerer Blick auf Interessen und Kalkül der Besatzungsmacht gewesen. Gerade weil, wie der Autor herausarbeitet, deutsche Behörden in diesem Fall kaum direkt involviert waren, stellt sich die Frage, welche Erwartungshaltung sie an die Arbeit der tschechischen Stellen hatten und wie sie deren Tätigkeit bewerteten. Setzte die Besatzungsmacht gezielt darauf, diesen Bereich weitgehend in tschechische Hände zu geben, da „eine gut organisierte tschechische Verwaltung hier wesentlich wirkungsvoller agieren würde“, wie Vondráček vermutet (S. 44)? Oder akzeptierte man im Amt des Reichsprotektors die Situation eher notgedrungen, weil schlicht nicht genug eigenes Personal verfügbar war? Raum für künftige Analysen bleibt bei diesem komplexen Themenfeld sicherlich. Doch bringt die Studie von Jan Vondráček die Forschung ein großes Stück voran.

Anmerkungen:
1 Zur Landwirtschaft und Ernährungspolitik im Protektorat etwa Barbora Štolleová, Pod kuratelou Německé říše. Zemědělství protektorátu Čechy a Morava [Unter der Kuratel des Deutschen Reiches. Landwirtschaft im Protektorat Böhmen und Mähren], Praha 2014.
2 Unerwähnt bleibt u.a. Jaromír Balcar / Jaroslav Kučera, Von der Rüstkammer des Reiches zum Maschinenwerk des Sozialismus. Wirtschaftslenkung in Böhmen und Mähren 1938 bis 1953, München 2013.

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